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Die Selbstverständlichkeit des Seins.

  • Ulrike Wilhelmy
  • 16. Juli
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 29. Sept.

Wenn sich der Mensch der Kunst bedient, um ein Bild von sich selbst in die Welt zu bringen.


"Zyklus Hoffnung auf Vollendung", Fenster des Künstlers Andreas Skorupa
"Zyklus Hoffnung auf Vollendung" Fenster des Künstlers Andreas Skorupa
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Die Marienkirche in Aulhausen wirkt zunächst wie eine Kirche, wie sie häufig zu finden ist im Rheingau. Doch wenn man sich der Kirche nähert, lassen bereits die Fenster erahnen, dass es sich hier um eine besondere Kirche handelt. Sowohl Fenster, Altar, die eingelassenen Engelsflügel im Boden und weitere Details wurden von Menschen mit Beeinträchtigung gestaltet. 2009 beauftragte das St. Vincenzstift in Aulhausen das Atelier Goldstein, eine Institution der Lebenshilfe Frankfurt, mit der Neuinszenierung des Kirchenraums. Das Atelier Goldstein vertritt dabei die Kunstschaffenden, deren Zugang zu Kunst und den dazugehörigen Institutionen nicht selbstverständlich ist. Jeder Künstler und jede Künstlerin wird von einer individuellen künstlerischen Assistenz begleitet, die es den Kunstschaffenden ermöglicht, ihre eigene Bildsprache zu finden, sie auszubauen und zu professionalisieren. Das inhaltliche Konzept des Atelier Goldstein beruht dabei auf der Erkenntnis, dass Menschen mit Beeinträchtigung in der Lage sind, bedeutende Werke der zeitgenössischen Kunst zu schaffen.



Aufnahmen aus der Marienkirche Aulhausen



Menschen mit einer zugeschriebenen Behinderung unterrichten Kunst.

Ich mache mich auf die Suche nach mehr Informationen über die Künstler und Künstlerinnen und erfahre auf der Internetseite des Ateliers, dass diese zum Teil auch als Dozierende tätig sind. Menschen mit einer zugeschriebenen Behinderung unterrichten Kunst für Schulklassen, leiten Workshops und Lehrerfortbildungen. Sie bringen damit anderen ihre Kunst, ihre Ansichten und ihre „Lebensbilder“ näher und entwickeln, vom eigenen Werk ausgehend, individuelle künstlerische Konzepte und Projektideen für die verschiedenen Zielgruppen. Ich interessiere mich besonders für die Arbeit des Künstlers Julius Bockelt, der in der Marienkirche die Christusfigur geschaffen hat mit einer unnachahmlichen Intensität und Stärke. Für eine meiner Hospitanzen im Rahmen des Studium frage ich beim Goldstein Atelier nach, erhalte jedoch kurze Zeit später die Nachricht, dass es in der nächsten Zeit leider nicht mehr möglich sein wird, eine Hospitation durchzuführen.



Julius Bockelt (rechts) während des Unterrichts an einer Regelschule, 2020, Foto: Elena Osmann
Julius Bockelt (rechts) während des Unterrichts an einer Regelschule, 2020, Foto: Elena Osmann



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Mensch: Julius Bockelt.

Julius Bockelt ist Teil der international erfolgreichen Produktionsstätte außerordentlich begabter Künstler mit Beeinträchtigung. Darüber hinaus ist er seit 2017 als Dozent an der Regelschule IGS in Frankfurt Süd tätig. In seiner Kunst beobachtet Julius Bockelt meist ephemere Zusammenhänge, sitzt oft tagelang auf einem Berg in der Nähe seines Wohnorts und beobachtet die Wolken, stellt nach und versucht, die meist flüchtigen Phänomene festzuhalten und in seiner künstlerischen Arbeit nachzuvollziehen. Neben den Wolkenbildern beschäftigt er sich noch mit weiteren Erscheinungen der Natur und Physik, zeichnet Schwingungen, macht Seifenblasen haltbar und arbeitet mit experimenteller Fotografie. Mich fesselt sofort die sehr eindrückliche Art, wie sich Julius Bockelt künstlerischen Fragestellungen nähert, experimentiert und dies auch mit beeindruckenden Worten zu vermitteln weiß. Für die Christusfigur hat er sich drei Jahre lang immer wieder der Herausforderung gestellt, die sowohl Material und Größe als auch die Aufgabe selbst mit sich brachten. Immer wieder hat er innere Dialoge darüber geführt, wie etwas sein kann, Proportionen an sich selbst abgemessen und seinen eigenen Körper studiert, um die Figur gestalten zu können. Er wollte beispielsweise keine Wundmale in die Christusfigur „hineinhauen“ und sagt dazu:



„Ich finde die Figur ganz gut, so wie sie ist. Für mich bräuchte sie

diese Wundmale nicht, ich bin nicht so ein Zerstörer.“  Julius Bockelt 



Christusfigur, Julius Bockelt. Interview aus dem Buch "Von der Unbegreiflichkeit Gottes - Atelier Goldstein in der Marienkirche Aulhausen"

Selbstbilder und wie sie wirken

Ich frage mich: Woher nimmt Julius Bockelt dieses Selbstverständnis, mit dem er in der Welt ist? Laut Untersuchungen von Carol Dweck, einer US-amerikanischen Psychologin, kann ein gutes Selbstvertrauen mit dem Bild zu tun haben, das wir von uns selbst haben. Laut Dweck lassen sich zwei Selbstbilder unterscheiden: das statische (fixed mindset) und das dynamische Selbstbild (growth mindset). Menschen mit einem statischen Selbstbild streben danach, ihre vorhandenen Talente zu beweisen und vermeiden Herausforderungen, die zu Fehlern führen könnten, da sie glauben, dass Intelligenz und Fähigkeiten angeboren sind. Im Gegensatz dazu glauben Menschen mit einem dynamischen Selbstbild, dass sie die Möglichkeit haben, ihre Fähigkeiten und Intelligenz durch Anstrengung und Lernen weiter entwickeln zu können. Sie sehen Herausforderungen als Chancen zum Wachsen und Lernen und betrachten Fehler als natürliche Bestandteile des Lernprozesses.

Auf mich macht Julius Bockelt den Eindruck eines Menschen mit einem positiven, dynamischen Selbstbild. Er hat eine Grundeinstellung zum Leben, die er offensichtlich durch eine Brille der Bejahung betrachtet und auch interpretiert. Menschen mit einem dynamischen Selbstbild beurteilen Informationen normalerweise weniger, sie betrachten sie differenzierter und von mehreren Seiten und fragen sich, was sie daraus lernen können. Dass er sich an schwierigen Aufgaben abarbeitet und auch immer wieder Rückschläge zu verkraften hat, gibt ihm offensichtlich die Möglichkeit, neue Schlüsse daraus zu ziehen und Zusammenhänge (anders) zu verstehen.



Julius Bockelt - Seifenblasen

Ein Selbstbild als Vorbild.

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Nach meinem Verständnis, kann ein Künstler wie Julius Bockelt für uns Vorbild sein. Carol Dweck konstatiert, dass ein dynamisches Selbstbild zu größerem Erfolg und größerer Widerstandsfähigkeit führen, während ein statisches Selbstbild Fortschritt und Entwicklung behindern kann. Sie betont aber auch, dass beide Selbstbilder nicht in Stein gemeißelt sind und durch bewusste Anstrengung und gezieltes Training verändert werden können. Das offenbart ein gewisses Veränderungspotenzial für uns selbst, für die Zusammenarbeit mit anderen und die gesellschaftliche Entwicklung als Grundvoraussetzung für „Change“. Und es kann bei herausfordernden Zusammentreffen mit anderen Menschen eine Verständnisfähigkeit initiieren. Für mich bleibt vor allem, dass ich Fragen an die Welt stellen möchte, so wie Julius Bockelt es tut. Dass ich mich auf einen Berg stellen, die Wolkenformationen beobachten und daraus Schlüsse ziehen will für meine eigene Arbeit. Ich möchte von ihm lernen, ganz in der Untersuchung von Material, Form und Gegenstand aufzugehen, sich dem ganz hinzugeben, um dies auch in der Kulturellen Bildung anzuwenden. Wenn ich mir vorstelle, wie Julius Bockelt seine Neugier und seine Experimentierfreude in Schule hineinträgt, um dort künstlerisch dialogisch zu arbeiten, dann möchte ich selbst gerne Kind sein.


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